Auf dem Sattel in die Ferne

Der Saarbrücker Polizeichef Becker macht strapaziöse Welt-Touren

Auf dem Roten Platz in Moskau wurde der deutsche Radler selbst zur Touristenattraktion. Man ließ sich mit ihm ablichten.
Auf dem Roten Platz in Moskau wurde der deutsche Radler selbst zur Touristenattraktion. Man ließ sich mit ihm ablichten.

Gerade hat er die 4300-Kilometer Tour Schmelz-Berlin-St. Petersburg-Moskau bewältigt und ist darüber zum „Botschafter“ für Russland geworden. Auch Australien und die USA hat Peter Becker (58) als einsamer Radler erkundet. Warum?

 

Am Anfang war ein Beipackzettel. Als der Arzt Peter Becker vor zwölf Jahren vor die Alternative stellte: Ausdauersport oder lebenslang Betablocker, wählte er das Medikament. Las die Liste der Nebenwirkungen – und schwang sich aufs Rad. „Zunächst habe ich mich täglich von Schmelz nach Saarlouis geschleppt, zu meiner damaligen Dienststelle. Dann begann die Sache Spaß zu machen“, erzählt der Chef der Saarbrücker Polizeibezirksinspektion. Infiziert war Becker da aber schon, vom bitter-süßen Reiz körperlicher Strapazen.

 

Riesige Wandertouren mit der Ehefrau gehörten zum Urlaubs-Repertoire: den Jakobsweg machte er gleich dreimal. Zum 50. Geburtstag schenkte er sich dann Australien. Radelte mit der Aufschrift „to go by bicycle to the opera“ 5300 unfallfreie Kilometer. Allein. Es folgten andere Touren, vom Schwarzwald bis ans Schwarze Meer oder die „Route 66“ von Chicago nach Los Angeles. Denn Beckers Frau ist zwar Ausdauersportlerin, aber: „Radfahren ist nicht ihre Geschwindigkeit, das ist ihr zu schnell.“ Dabei geht es Becker ebenfalls darum: um Entschleunigung, die elementare, intensive Eindrücke erlaubt. Radfahren ist seine Methode, den Puls einer fremden Welt zu ertasten und zu verinnerlichen. „Im Auto läuft an den Scheiben doch nur ein Film ab“, meint er.

 

Aber wer geht – nein: radelt – für einen alternativen Welt-Zugang so weit wie Becker? Bis Moskau nämlich. Zwischen 18. Mai und 28. Juni dieses Jahres legte er 4300 Kilometer zurück, im Schnitt 130 Kilometer pro Tag. Es war Beckers bisher bewegendste, folgenreichste Reise. Nicht, weil er mit dem saarländischen Umweltminister Peter Altmaier durch das Brandenburger Tor radelte. Nein: „Mein Weltbild hat sich neu ausgerichtet. Alles, was ich vorher über das finstere, dubiose Russland gehört hatte, traf nicht zu. Ich bin zu einem Botschafter dieses Landes geworden und ermutige jeden, dorthin zu fahren.“

 

Weniger wegen St. Peterburg, das ein einziges Schatzkästlein sei. Sondern weil die Menschen Becker so begegnet sind, wie es ihm im Vorfeld nur die Leute vom Saarbrücker Verein „Russisches Haus“ erzählt hatten. Die Autofahrer passten selbst im knüppeldicken Verkehr auf ihn auf. Die lettische Gasthaus-Inhaberin Anna, die vier Jahre in Bad Kreuznach gelebt hat, backte ihm in Kallaste einen Rhabarberkuchen. Und 400 Kilometer vor Moskau, in einer Stadt ohne Hotel und Kneipe, bewies ihm ein aserbaidschanischer Gastarbeiter in einer heruntergekommenen Plattensiedlung, dass Gastfreundschaft nicht nur ein Wort in romantisierenden Abenteuerreisen-Büchern ist. Ein Bett gab es, Bratkartoffeln, Bier und Gurkensalat für den verdreckten, erschöpften, ausgehungerten Fremden.

 

Warum um Himmels Willen reist man überhaupt auf diese Art? Das hat dann doch wohl mit dem sehr speziellen Charakter dieses Mannes zu tun. Wir treffen Peter Becker in seinem Büro in der Karcherstraße. 40 Stufen geht’s federnd flugs hinauf. Zwölf Kilo hat er seit Beginn der Trainingsphase verloren. 68 Kilo wiegt der 1,78-Meter-Mann – das Gegen-Modell zum Klischee des Muskel bepackten Polizei-Haudegens. Und sein Büro? Eine Kunst-Galerie, Zolnhofer und Jené an den Wänden, ein Erbe des Vaters. Der war Architekt und Kunstsammler. Der Sohn wurde lieber Vize-Saarlandmeister im Gewichtheben, dann Reptilienzüchter. Heute noch wird Becker bei Tiereinfang-Einsätzen als „Schlangenbeschwörer“ gerufen. Und jetzt ist Becker auch noch Weltreisender, der für Vorträge engagiert wird. Kein Wunder, so wie Becker formulieren kann: „Der Wind hat mir in den USA das Gesicht gekühlt, in Russland hat er mir den Nacken gekrault.“ Drei Tage konnte er rausfahren. Becker zitiert auch schon mal den Autor Paulo Coelho, um die Angst vor dem Fremden zu erklären.

 

Sein Reisehunger mag auch generationenbedingt sein. Als Becker jung war, galt Rucksack-Urlaub als die einzig wahre, nicht-spießige Urlaubsform. Becker trampte von zu Hause bis zur Schule, eroberte sich dank „Interrail“ ganz Europa. „Ich bin nie Pauschaltourist geworden“, sagt er. Zwischen 28 und 45 gab es in seinem Leben sowieso keinen Urlaub, sondern: Beruf, Hausbau, Familie. Bis er dann auf einem Geburtstag eine Parabel hörte. Von einem 99-Jährigen, der Rückblick hielt und aufzählte, was er, wenn er denn noch einmal zu leben hätte, alles anders machen würde: „Aber man hat nicht noch einmal zu leben. Das war für mich ein zündender Funke“, erzählt Becker. Seitdem schreibt er sich alle noch so verrückten Reiseziel-Ideen mit Datum in sein Tagebuch. Indien steht noch aus, La Réunion oder die „Ruta 40“ von Patagonien bis zur brasilianischen Grenze. Doch erst einmal ist er noch mittendrin in den „überwältigenden“ Eindrücken, die ihm die jüngste Reise bot. „Die Polizei korrupt, der Verkehr lebensgefährlich, die Menschen aggressiv, das sollte mich erwarten. Wenn das Russland ist, dann war ich nicht dort“, sagt Becker. Reisen stärke das Vertrauen in die Menschen, meint er. Vielleicht half das. Er ist in seinem Beruf nicht zum Skeptiker und Zyniker geworden.

An seinem letzten Tag in Moskau schloss sich Peter Becker einer deutschen Reisegruppe an. Als der russische Reiseführer erfuhr, woher Becker stammt, fragte er:„Lebt Oskar Lafontaine noch?“ Es stellte sich heraus, dass dieser Mann 1976 bei einer der ersten russischen Gruppen dabei war, die nach Deutschland reisen durften. Da Saarbrücken die erste deutsch-russische Städtepartnerschaft mit Tbilisi unterhielt, stand das Saarland auf dem Programm. Bei einem Empfang traf der Russe den damaligen OB Lafontaine. Jetzt gab er Becker Grüße an ihn mit. „Die habe ich ausgerichtet“, sagt Becker. Als er Lafontaine bei der Mettenschicht in Ensdorf sah.

mit freundlicher Genehmigung der http://www.saarbruecker-zeitung.de/,

Ausgabe SA/SO, 21./22. Juli 2012